Die Eskalationsstufen nach Glasl: Ein Leitfaden zur Konfliktbewältigung
Luisa Hain
Konflikte sind ein unvermeidlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Interaktionen, sei es im beruflichen oder privaten Umfeld. Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl hat ein Modell entwickelt, das die Dynamik von Konflikten in neun Eskalationsstufen beschreibt. Dieses Modell ist ein wertvolles Werkzeug, um Konflikte zu verstehen und geeignete Maßnahmen zur Deeskalation zu ergreifen. In diesem Artikel werfen wir einen detaillierten Blick auf die Eskalationsstufen nach Glasl und bieten Strategien zur Konfliktbewältigung.

Die neun Eskalationsstufen nach Glasl
Glasl unterteilt die Eskalation von Konflikten in drei Hauptphasen, jede mit drei spezifischen Stufen:
Phase 1: Win-Win
In dieser Phase haben beide Parteien noch die Möglichkeit, den Konflikt zu einem beiderseitig akzeptablen Ergebnis zu führen.
Stufe 1: Verhärtung
Der Konflikt beginnt mit einer Meinungsverschiedenheit. Die Parteien sind sich ihrer Differenzen bewusst, aber der Umgang ist noch sachlich.
Stufe 2: Debatte und Polemik
Die Diskussionen werden härter und emotionaler. Beide Seiten versuchen, ihre Position durchzusetzen, oft auf Kosten der anderen.
Stufe 3: Taten statt Worte
Die Parteien beginnen, Handlungen zu setzen, um ihre Position zu stärken. Es gibt erste Anzeichen von Misstrauen und der Wille zur Zusammenarbeit nimmt ab.
Phase 2: Win-Lose
In dieser Phase wird der Konflikt intensiver und eine Partei versucht, auf Kosten der anderen zu gewinnen.
Stufe 4: Koalitionen
Die Konfliktparteien suchen Unterstützung und bilden Koalitionen. Es entsteht ein „Wir gegen die“-Gefühl.
Stufe 5: Gesichtsverlust
Es kommt zu persönlichen Angriffen und Demütigungen. Der Konflikt wird zunehmend persönlich und die Fronten verhärten sich weiter.
Stufe 6: Drohstrategien
Die Konfliktparteien greifen zu Drohungen und Ultimaten. Es wird versucht, die Gegenseite durch Druck und Angst zu beeinflussen.
Phase 3: Lose-Lose
In dieser Phase sind beide Parteien bereit, ihre eigenen Verluste in Kauf zu nehmen, nur um der anderen Partei zu schaden.
Stufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge
Die Parteien sehen keinen anderen Ausweg mehr, als der Gegenseite schweren Schaden zuzufügen. Der Konflikt wird zunehmend destruktiv.
Stufe 8: Zersplitterung
Der Konflikt eskaliert weiter und zielt darauf ab, den Gegner komplett zu zerstören. Alle Mittel werden eingesetzt, um die Gegenseite zu schädigen.
Stufe 9: Gemeinsam in den Abgrund
Die völlige Zerstörung der eigenen und der gegnerischen Position wird in Kauf genommen. Der Konflikt erreicht einen Punkt, an dem beide Seiten bereit sind, alles zu opfern.

Interventionstechniken:
Das Modell berücksichtigt die systemische Natur von Konflikten. Es zeigt, dass Konflikte nicht isoliert betrachtet werden können, sondern im Kontext der gesamten Beziehung oder des Systems (z. B. Organisation, Familie) analysiert werden müssen. Veränderungen in einer Konfliktpartei oder in der Umgebung können den gesamten Konfliktverlauf beeinflussen. Je nach Eskalationsstufe sind unterschiedliche Interventionstechniken erforderlich:
Stufe 1-3 (Win-Win): Coaching, Beratung, informelle Gespräche
Stufe 4-6 (Win-Lose): Formelle Mediation, strukturierte Verhandlungen
Stufe 7-9 (Lose-Lose): Schiedsverfahren, juristische Maßnahmen, Notfallinterventionen
Effektive Kommunikation spielt eine zentrale Rolle bei der Deeskalation von Konflikten. Wie auch im Teufelskreis von Schulz von Thun zeigt das Modell die Bedeutung von aktivem Zuhören, Ich-Botschaften und empathischer Kommunikation. Eine klare und offene Kommunikation kann Missverständnisse reduzieren und Vertrauen aufbauen.
Praktische Anwendungen
Konfliktmanagement in Organisationen
Das Modell wird häufig in Unternehmen und Organisationen eingesetzt, um Konflikte zwischen Mitarbeitern, Teams oder Abteilungen zu analysieren und zu lösen. Führungskräfte und HR-Profis können das Modell nutzen, um frühzeitig Eskalationsstufen zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
Mediation und Coaching
Professionelle Mediatoren und Coaches verwenden das Modell, um Konfliktparteien zu helfen, ihre Situation zu verstehen und Wege zur Konfliktlösung zu finden. Es bietet eine strukturierte Methode zur Diagnose und Intervention.
Ausbildung und Training
Das Modell ist ein fester Bestandteil von Schulungen und Trainings im Bereich Konfliktmanagement. Es hilft den Teilnehmern, die Dynamik von Konflikten zu verstehen und ihre eigenen Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung zu verbessern.
Grenzen des Modells
Komplexität realer Konflikte: In der Praxis sind Konflikte oft komplexer und nicht immer linear. Das Modell kann nicht alle Nuancen und Variationen abdecken.
Kulturelle Unterschiede: Das Modell basiert auf westlichen Kommunikations- und Konfliktlösungsstrategien. In anderen kulturellen Kontexten können unterschiedliche Ansätze und Interventionen erforderlich sein.
Individuelle Unterschiede: Persönliche Eigenschaften und psychologische Faktoren der Konfliktparteien spielen eine wichtige Rolle und können den Verlauf und die Eskalation des Konflikts beeinflussen.
Fazit
Die Eskalationsstufen nach Glasl bieten ein wertvolles Modell, um die Dynamik von Konflikten zu verstehen und geeignete Maßnahmen zur Deeskalation zu ergreifen. Indem wir die verschiedenen Phasen und Stufen eines Konflikts erkennen, können wir gezielt eingreifen und Lösungen finden, bevor der Konflikt unkontrollierbar wird. Obwohl es nicht alle Aspekte und Komplexitäten abdecken kann, ist es ein äußerst nützliches Werkzeug für Mediatoren, Führungskräfte und alle, die im Bereich Konfliktmanagement tätig sind. Durch die Anwendung dieses Modells können Konflikte effektiver und nachhaltiger gelöst werden, was zu einer besseren Zusammenarbeit und einem harmonischeren Miteinander führt. Eine offene Kommunikation, professionelle Mediation und strukturierte Verhandlungen sind entscheidende Werkzeuge, um Konflikte effektiv zu managen und eine Win-Win-Situation anzustreben.